Zur Eröffnung der Ausstellung von Lidong Zhao

Text: Isabel Herda


E N T F E R N U N G – so lautet der Titel der Ausstellung von Lidong Zhao, den Sie auf der Einladungskarte gelesen haben und der Sie vielleicht neugierig gemacht und doch ebenso ratlos zurückgelassen hat.

E N T F E R N U N G. Wenn ich die Bilder dazu sehe – Landschaften und Stillleben – dann erschließt sich der Titel zwar nicht unmittelbar, aber er regt an, ihn in eine Beziehung zu den Fotografien zu bringen. Das will ich jetzt versuchen.


In dem Begriff Entfernung schwingt eine Bewegung mit: ein Ausgangspunkt, der verlassen wurde oder auch die Strecke zwischen zwei Punkten. Ferro heißt ‚(von) fern, weit (weg). Das vorabgestellte Präfix „ent“ drückt aus, dass man etwas in seinen Ausgangszustand zurückbringen will. Ent-fernung meint also gerade nicht Distanz. Distanz zielt im Gegensatz zur Entfernung auf die bewusste Abgrenzung ab. In Bezug zur Fotografie heißt das: zwischen dem Objekt und der Betrachterin, oder dem Objekt oder der Umgebung und dem Fotografen. In der klassischen europäischen Fotografie, in der es um das Ablichten von Objekten geht, steht der Fotograf immer einem Objekt oder seiner Umgebung als ein Beobachter gegenüber. Damit entsteht Distanz zwischen dem Objekt und dem Beobachter. Der Begriff der Entfernung, den Lidong Zhao hingegen für die Ausstellung gewählt hat, stellt dieses Verhältnis prinzipiell in Frage. Ihm geht es in seiner künstlerischen Fotografie um die Beziehung zwischen dem Fotografen, der Kamera und den Dingen bzw. der Um-Welt. Darin klingt die Frage an, inwiefern sich das von dem Ablichten von Objekten, wodurch man sich tendentiell in Abgrenzung zu den Objekten verortet, unterscheidet.


Die LANDSCHAFTEN vermitteln das Gefühl von Stille und Ruhe, des ganz bei sich Seins. Es sind Wälder, Ausschnitte oder deren Ränder, die Stämme, Geäst, Nadeln, Blattwerk und Blüten zeigen. Die Fotografien machen filigrane Strukturen sichtbar, getragen von Zartheit und Leichtigkeit. Beim Abtasten mit unseren Augen aber wird dieser erste Eindruck überlagert, unser Blick bewegt sich hin- und her und bleibt im Dickicht von Linien, Farben und Formen hängen – unentwirrbar und doch scharf gestochen.


Die Fotografien wurden im Schwarzwald, um Freiburg herum und im Allgäu aufgenommen. Aber können wir die Bilder tatsächlich einer Landschaft zuordnen? In manchen Fotografien erscheint dies offensichtlich, vielleicht, weil wir Pflanzen erkennen, die wir mit unserem Bild des Schwarzwalds verbinden, andere hingegen könnten auch an anderen Orten entstanden sein. Aber es geht Lidong Zhao auch gar nicht darum, das Typische einer Landschaft einzufangen, einen Ort zu beschreiben oder eine optimale Perspektive auf etwas zu finden. Der Ort als geografisch bestimmbarer ist nicht von Bedeutung. Auch der Titel, der nicht fehlt, sondern bewusst eben keiner ist, definiert das Bild nicht als eine (bestimmte) Landschaft. Und ebenso wird dies in der Präsentation, in der Aneinanderreihung der Werke deutlich, die eben keine Serie ist, sondern eine Zusammenstellung von Einzelbildern, aufgenommen an verschiedenen Orten.


Im Unterschied zu klassischer Landschaftsfotografie, die ein Motiv oder Thema in den Mittelpunkt stellt, eine bestimmte Perspektive wählt, eine besondere Lichtsituation zum Ausdruck bringt oder den kulturgeschichtlichen Kontext oder die Geschichte mitdenkt, interessieren all diese Aspekte in Lidong Zhaos Fotografien nicht. Es geht weder um Größe, Attraktivität noch um Hässlichkeit, es sind keine mit Bedeutung aufgeladenen Orte. Das Bild ist nicht Abbild, sondern vielmehr ein Vorstellungsraum.


Lidong Zhao erkundet auf Spaziergängen lange seine Umgebung, macht sich vertraut, nimmt sie körperlich wahr, schmeckt, riecht, fühlt sie, bevor er zur Kamera greift. In dieser bewussten, tiefen und entschleunigten Wahrnehmung seiner Umwelt, die viel mehr umfasst als das Gesehene, kann er sich selbst als Teil dieser Umwelt erfahren. In dieser Haltung, in der er die Aufmerksamkeit auf das richtet, was gerade passiert und damit ganz eins wird, begegnen ihm Bilder oder anders gesagt, stellen sich ein. Im Voraus hat er keinen festen Plan. Es ist nur ein Moment der Wahrnehmung, der für ihn dann der Anlass zum Auslösen ist. Obgleich Zhao eine digitale Kamera benutzt, entsteht meist nur eine einzige Aufnahme, die genau diesem Moment entspricht und weder vorher noch hinterher reproduzierbar wäre. Ein Moment, der Gegenwart und Vergangenheit miteinschließt und damit irgendwie auch einer Zeitlichkeit enthoben scheint. Das Bild ist ein Ganzes. In Bezug auf die Landschaften bedeutet das: Es gibt keinen Fokus mehr; das, was die Fotografien zeigen, hat keine Begrenzung. Wie eine durchlässige tiefe Struktur legen sich Äste und Blätter übereinander, die Trennung von Vorder- und Hintergrund, zu der auch die an manchen Stellen sichtbaren Unschärfen gehören, ist aufgehoben, der Standpunkt, von dem aus das Bild aufgenommen wurde, kaum auszumachen.


Damit werden zentrale Fragen berührt, die Lidong Zhao beim Fotografieren leiten: Wie kann ich fotografieren ohne zu erfassen? Wo stehe ich? Indem er sein Wissen vom Sehen löst, kann er selbst – als Fotograf – Teil seiner Umwelt sein und gerade nicht außenstehender Beobachter. Wenn wir die Fotografien betrachten, stehen wir dem Bild nicht gegenüber, sondern können uns selbst als Teil einer sich in steter Veränderung befindenden Situation erfahren.

Vor diesem Hintergrund ist das Dargestellte nebensächlich in dem Sinne, dass es keine Bedeutung darüber hinaus hat. Die Landschaft, die nicht für etwas steht, ebenso wie die Gegenstände des Stilllebens, die keine symbolische oder metaphorische Bedeutung haben.


In der Ausstellung begegnen sich diese beide Bildgattungen, die das bisherige künstlerische Werk von Lidong Zhao bestimmen, Landschaften und Stillleben. Der Begriff „Stillleben“, der im 17. Jahrhundert in der niederländischen Kunst geprägt wurde, bezeichnete zunächst nur, dass etwas nach dem Leben und nicht nach der Phantasie gemalt wurde. Der Begriff „nature morte“ im Französischen hingegen, lenkt den Blick auf die unbelebten, toten Dingen: In dieser Bedeutung spiegelt sich dann das europäische Verständnis des Dinges in der bildlichen Darstellung wider. Das dargestellte Ding steht für etwas, es repräsentiert etwas.


Lidong Zhao hat mich in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass es in der traditionellen chinesischen Sprache den Begriff „Stillleben“ gar nicht gibt, für ihn aber gerade die Differenz zwischen der europäischen und der chinesischen Bedeutung interessant ist. In der klassischen chinesischen Blumen- und Vogelmalerei, ein Genre, das mit dem europäischen Stillleben vergleichbar ist, liegt der Fokus nicht auf dem Leblosen, sondern auf dem Lebendigen. In einem Wechselspiel kommen die bewegten und die ruhigen Dinge zusammen. Das hat auch mit den Arbeiten von Lidong Zhao zu tun. Er setzt sich sozusagen mit dem Dazwischen auseinander und untersucht in seinen Arbeiten die Darstellung des Dings und der Welt aus einer interkulturellen ostasiatisch-europäischen Perspektive.


Von den Stillleben geht eine ähnliche Wirkung aus wie von den Landschaften – Stille und gleichzeitig große Lebendigkeit. Die arrangierten Dinge – eine Tischplatte, Teller mit Wasser, Obst und dahinter montierte Papiere – benennen nur Dinge, das Bild aber ist weitaus komplexer. Elementarer Teil des Bildes ist ebenso das von außen kommende Licht genauso wie die Struktur des Papiers. In den jüngsten Stillleben hat Lidong Zhao die Dinge reduziert, so dass diese Stillleben nahezu abstrakt erscheinen oder vielleicht eher ihren offensichtlichen Dingcharakter verschleiern. Vielleicht könnte man sie als Versuchsanordnung beschreiben. Ein Blatt Papier, das mit dünnen parallelen Schnitten versehen wurde, durch die diffuses Licht dringt. Die Struktur des Zeichenpapiers erscheint wolkig, die passgenauen Schnitte darin wie Sehschlitze. Auf dem Tisch, hinter dem das Papier hängt, breitet sich Wasser aus. Das Wissen darum ist jedoch nicht wichtig. Die Frage, was real existiert und was Spiegelbild ist, stellt sich nicht. Die beiden Flächen sind einander ähnlich. Das Bild ist ein Ganzes, die Ent-fernung zu den Dingen ist aufgehoben.